9
John ging in die Küche zurück und kramte in einem Schrank, bis er die extragroße Packung Aspirin gefunden hatte. Er schüttete sich vier Tabletten auf die Hand und schluckte sie mit einem Glas Wasser hinunter. Er wollte endlich die Kopfschmerzen loswerden, die in seinem Schädel hämmerten, seit sie Winslow hinter sich gelassen hatten.
Dann ließ er sich auf das Sofa im Wohnzimmer fallen und versuchte sich zu erinnern, welche Strafe für Leute vorgesehen war, die flüchtigen Verbrechern Unterschlupf gewährten. Zweifellos fiel sie um etliches höher aus, wenn die betreffende Person Polizist war. Während er dasaß, gab er sich alle Mühe, sich selbst zu überzeugen, dass es keine Riesendummheit war, die er soeben begangen hatte, aber das erwies sich als verdammt schwierig.
Sein Abstieg in die Regionen der Unvernunft hatte begonnen, als er Renee nicht dingfest gemacht hatte, nachdem sie Harleys Laden betreten hatten. Noch tiefer war er gesunken, als er sie mit falschem Namen angesprochen hatte. Und den absoluten Tiefpunkt hatte er erreicht, als er rechts abgebogen und nicht zur Polizeiwache gefahren war.
Er hatte keine Ahnung, was er jetzt machen sollte. Wenn irgendjemand, ganz gleich wer, herausfand, dass er sie hier festhielt, statt sie abzuliefern, konnte er seine Karriere in der Pfeife rauchen. Eigentlich sollte er nur daran denken, dass er sie ins Gefängnis bringen musste, aber im Augenblick ging ihm nur das durch den Kopf, was vor wenigen Stunden im Wald zwischen ihnen geschehen war. Dieses Erlebnis war so heiß, so intensiv, so unvergesslich gewesen, dass seine Erinnerung daran frühestens mit dem Einsetzen der Altersdemenz verblassen würde.
Und dann musste er an seinen Vater denken.
Ohne Zweifel beobachtete Joseph DeMarco ihn aus dem Jenseits und bedauerte es, die Schwelle zwischen Leben und Tod nicht überschreiten zu können, weil er seinen ungeratenen Sohn am liebsten in die Mangel genommen und eine gehörige Portion gesunden Menschenverstands eingebläut hätte. Zuerst war John ausgerastet, weil man den kleinen Mistkerl freigesprochen hatte, und nun hatte er eine Frau, die des bewaffneten Raubüberfalls angeklagt war, an sein Bett gefesselt. John wusste genau, dass sich sein Vater auch nicht durch die mildernden Umstände von seiner Meinung hätte abbringen lassen.
Ich will deine Rechtfertigung gar nicht hören, hatte er die Worte seines Vaters im Ohr, die er sich während seiner Kindheit und Jugend immer wieder hatte anhören müssen. Es gibt keine Rechtfertigung. Es gibt nur Richtig und Falsch.
Er hatte nie übermäßig viele Worte gemacht - er kam sofort auf den Punkt, und dann kamen die Prügel. John erinnerte sich noch gut an den Abend, als er mit sechzehn Jahren zu spät nach Hause gekommen war, weil er einem Freund geholfen hatte, dessen Autobatterie leer gewesen war. Zu spät war zu spät, hatte sein Vater gesagt, und seinem Sohn die Hölle heiß gemacht.
Seine Brüder Alex und Dave hatten Mittel und Wege gefunden, mit der schmalen Abgrenzung zwischen Richtig und Falsch zurechtzukommen - Dave, indem er passiven Widerstand leistete und jede Bestrafung mit stoischem Gleichmut über sich ergehen ließ, und Alex, indem er genauso wie ihr Vater wurde, so dass er nur noch selten mit einer Bestrafung rechnen musste. John hatte keine erfolgreiche Strategie gehabt und seine Jugend damit verbracht, seinen Vater gleichzeitig zu lieben und zu hassen - und sich zu fragen, ob irgendwann der Tag kommen würde, an dem er seinen Ansprüchen gerecht wurde.
Bisher hatte er diese Frage immer nur verneinen müssen.
Mehrere Male hätte sich John beinahe dazu durchgerungen, in sein Schlafzimmer zurückzumarschieren, Renee zu schnappen und sie zur Wache zu bringen. Dann dachte er: Und was ist, wenn sie unschuldig ist? Um sich selbst gleich darauf zu erwidern: Das zu entscheiden ist nicht deine Aufgabe.
Es spielte keine Rolle, wie oft er sich sagte, dass er seine Arbeit erledigen und die Sache zu Ende bringen sollte; er gelangte immer wieder zur Schlussfolgerung, dass es nur eine Möglichkeit gab, wie er sie mit reinem Gewissen ins Gefängnis bringen konnte. Nämlich wenn für ihn kein Zweifel mehr bestand, dass sie schuldig war.
Im Wald hatte sie mit ihm reden und ihre Geschichte erzählen wollen. Sie hatte auf ihrem Recht bestanden, sich zu verteidigen.
Vielleicht wurde es Zeit, dass er ihr jetzt die Gelegenheit dazu gab.
Renee versuchte, eine Bilanz ihrer derzeitigen Situation zu ziehen. Sie wollte verstehen, was eigentlich los war, aber schließlich gab sie auf. Sie hatte keine Ahnung, was John vorhatte, aber sie verspürte einen winzigen Funken Hoffnung, dass er ihr vielleicht doch glaubte, zumindest ein klein wenig. Andernfalls würde sie jetzt im städtischen Gefängnis sitzen.
Sie schaute sich um. Es war das typische Schlafzimmer eines Junggesellen. Überall lag Kleidung herum, das Bett war nicht gemacht, und die Möbel sahen nach Flohmarkt aus. Die Staubschicht auf der Kommode verriet ihr, dass Putzen ziemlich weit unten auf seiner Dringlichkeitsliste stand.
Auf der Kommode waren mehrere gerahmte Fotos angeordnet. Drei davon waren Atelieraufnahmen, eins zeigte ein älteres Paar, ein anderes eine attraktive, dunkelhaarige Frau etwa Anfang dreißig, und ein weiteres war ein Gruppenbild, das vor einiger Zeit entstanden sein musste. Darauf war John zu erkennen, aber er sah mindestens zehn Jahre jünger aus. Er war von lächelnden Menschen umgeben.
Familienfotos.
Renee hatte ein sehr seltsames Gefühl, als sie die Bilder betrachtete, denn ihr wurde plötzlich bewusst, dass der Mann, gegen den sie in den vergangenen vierundzwanzig Stunden Krieg geführt hatte, ein Leben hatte. Eine Familie. Eine Vergangenheit. Sie hatte bereits geglaubt, dass er eines Tages als erwachsener, fertig ausgebildeter Polizist auf die Welt gekommen war, um Tolosa vor bösen Menschen zu retten. Aber hier war der Beweis, dass er tatsächlich ein menschliches Wesen war.
Sie sah sich die Fotos genauer an, und schließlich fragte sie sich, ob er auch welche in der Brieftasche dabei hatte. Dann dachte sie daran, was sich in ihrer eigenen Brieftasche befand, die zweifellos vom Geschäftsführer der Flamingo Motor Lodge beschlagnahmt worden war. Darin steckten achthundertfünfzig Dollar, aber nach Fotos hätte er vergeblich gesucht. Okay, sie hatte immer noch den blöden Schnappschuss dabei, den sie mit Paula vor ein paar Jahren in einem Fotoautomaten aufgenommen hatte. Aber das war auch schon alles. Man hatte Fotos in der Brieftasche, um sich an die Familie zu erinnern, wenn man nicht bei ihr sein konnte. Wollte Renee an ihre Familie erinnert werden, die lediglich aus einer alkoholabhängigen Mutter bestanden hatte? Eher nicht.
Sie lehnte sich gegen einen Bettpfosten, was nur ging, wenn sie sich den Arm verrenkte, und seufzte erschöpft. Der lange Fußmarsch hatte sie ganz schön geschafft. Gedanken an Flucht sickerten durch ihren Kopf, aber die Müdigkeit hinderte sie daran, sie zu einem realistischen Plan weiterzuentwickeln. Letzte Nacht hatte sie John überrumpelt. Eine solche Gelegenheit würde sie kein zweites Mal erhalten.
Schlaf. Das war das Einzige, was sie jetzt brauchte.
Sie war bereits am Einnicken, als sich die Schlafzimmertür knarrend öffnete. Renee fuhr erschrocken hoch und sah, wie Johns breitschultrige Gestalt im Türrahmen stand.
»Hast du Hunger?«, fragte er.
»Ja. Ein wenig.«
Er schloss die Handschellen auf. »Ich habe etwas Suppe warm gemacht. Komm essen.«
Ja. Essen wäre jetzt wirklich gut! Allerdings bereitete es ihr einige Mühe aufzustehen. All ihre Muskeln schmerzten, und sie schaffte es nur gerade so, sich aufrecht zu halten.
»Aber zuerst«, sagte John, »will ich die Regeln klarstellen. Wenn du nicht gefesselt bist, verlässt du nicht mein Sichtfeld. Wenn du es doch tust, liefere ich dich ab. Wenn jemand an die Tür kommt, schließe ich dich im Schlafzimmer ein. Wenn du auch nur den leisesten Mucks von dir gibst, liefere ich dich ab. Wenn du auf irgendwelche seltsamen Ideen kommst, wie du es zum Beispiel beim Marsch durch den Wald probiert hast, liefere ich dich ab. Einfach gesagt: Sollte irgendwer herausfinden, dass ich dich hierher gebracht habe, könnte ich meinen Job verlieren, ganz zu schweigen von den Strafen, die mich erwarten, weil ich einer flüchtigen Verbrecherin Unterschlupf gewähre. Ich werde alles tun, um zu vermeiden, dass es so weit kommt. Alles. Hast du mich verstanden?«
Renee schluckte und nickte.
»Und falls ich dich wirklich abliefere und du irgend wem von dieser Sache erzählen willst, werde ich alles abstreiten und dann alles Menschenmögliche unternehmen, um sicherzustellen, dass du wegen bewaffneten Raubüberfalls verurteilt wirst. Hast du auch das verstanden?«
Inzwischen war Renee so sehr durch seine nüchterne, knallharte Art eingeschüchtert, dass ihr Herz wie eine Basstrommel pochte. Aber das ging in Ordnung. Mit Regeln konnte sie leben. Sie konnte mit Einschränkungen ihrer Bewegungsfreiheit leben. Sie würde sogar Würmer essen und in einer Ecke Kopf stehen, wenn ihr dadurch das Gefängnis erspart blieb.
»Ja, das habe ich verstanden.«
John antwortete ihr mit einem knappen Nicken und führte sie in die Küche. Mit seiner Erlaubnis wusch sie sich an der Spüle die Hände, dann setzten sie sich an den Tisch, wo er zwei Teller Nudelsuppe mit Huhn bereitgestellt hatte. Es war völlig surreal, wie sie dasaßen und aßen, als wäre es das Normalste der Welt. Nur das Klappern der Löffel unterbrach die Stille. Als sie fertig waren, stellte John die Teller in die Spüle, kehrte anschließend an den Tisch zurück und setzte sich wieder neben sie, wobei er sich mit einem nackten Fuß auf der Querstrebe eines weiteren Stuhls abstützte. Und er hatte sich Stift und Notizblock zurechtgelegt.
»Okay«, sagte er. »Der Tag, an dem der Überfall stattfand. Ich möchte, dass du mir deine Version der Geschichte erzählst.«
Renee starrte ihn verblüfft an. »Du ... du willst wirklich hören, was ich dazu zu sagen habe?«
Er warf ihr einen finsteren Blick zu. »Ich habe gesagt, dass ich es mir anhören will. Oder täusche ich mich?«
»Nein, das hast du gesagt, aber ...«
»Während wir durch den Wald gelaufen sind, wolltest du ständig mit mir darüber reden, und jetzt ist es plötzlich ein Problem?«
»Nein! Ganz und gar nicht! Es ist überhaupt kein Problem!« Sie atmete tief durch und versuchte, einen unschuldigen Eindruck zu machen, auch wenn sie sich nicht sicher war, was für einen Polizisten unschuldig aussah.
Sie stützte sich mit den Ellbogen auf dem Tisch ab und bemühte sich, ihr müdes Gehirn wieder zum Denken zu bringen. Sie wünschte sich, sie hätte ein wenig schlafen können, bevor er entschied, dass die Zeit für das Verhör gekommen war. Vielleicht war es ihre einzige Chance, ihn davon zu überzeugen, dass sie nichts mit diesem Raubüberfall zu tun hatte.
»Okay. An diesem Abend hatte ich kurz zuvor erfahren, dass ich befördert worden war, im Restaurant, wo ich arbeite. Der Besitzer hat mich zur Oberkellnerin ernannt. Ich hatte ewig auf diesen Job gehofft, und als ich ihn endlich hatte, wollte ich feiern. Also bin ich etwas früher gegangen. Ich fuhr nach Hause und rief meine Freundin Paula an. Aber dann erinnerte ich mich, dass sie mit ihrem nichtsnutzigen Freund Tom übers Wochenende ins Hilton gefahren war. Also musste ich allein feiern.«
»Um welche Uhrzeit geschah der Raubüberfall?«
»Anscheinend gegen zweiundzwanzig Uhr fünfzehn.«
»Welcher Supermarkt?«
»Der Handi-Mart an der Griff in Street, nur wenige Blocks von meiner Wohnung entfernt.«
John machte sich ein paar Notizen. »Und wo warst du, als der Überfall stattfand?«
»Zu Hause.«
»Hat dich jemand gesehen? Hast du mit jemandem telefoniert? War irgendwas?«
»Nein. Ich war die ganze Zeit in meiner Wohnung und habe mir irgendeine alte Schnulze im Fernsehen angesehen.«
»Aber dann hast du die Wohnung doch verlassen.«
»Ja.«
»Wann hat dich der Polizist an den Straßenrand gewunken?«
»Kurz nach elf.«
John notierte sich die Zeit. »Warum bist du um elf Uhr nachts noch einmal losgefahren?«
Renee seufzte. »Ich wollte Eiskrem kaufen.«
»Eiskrem?« Er starrte sie ungläubig an.
»Ja, Eiskrem. Ich weiß, dass es jetzt ziemlich blöd klingt, aber deswegen bin ich noch einmal zu Ben &c Jerry‘s gefahren. Sie waren die einzigen Freunde, die Zeit hatten, mit mir zu feiern.«
»Also hast du in der Zeit, nachdem du von der Arbeit gekommen und bevor du wieder losgefahren bist, niemanden getroffen.«
»Richtig. Nun, mit Ausnahme von Steve Garroway.«
»Wer ist das?«
»Mein Ex-Freund. Wir haben uns vor ein paar Monaten getrennt.«
»Ist er zu deiner Wohnung gekommen?«
»Nein. Ich habe ihn im Korridor gesehen.«
»Wann?«
»Kurz vor elf.«
»Fünfundvierzig Minuten nach dem Überfall.«
»Ja. Er kam aus Toms Wohnung ...«
»Tom?«
»Paulas Freund. Von dem ich dir erzählt habe. Tom wohnt genau gegenüber von mir.«
»Wohnt Steve auch dort?«
»Nein. Früher ja, aber vor einigen Monaten ist er ausgezogen. Er wohnt immer noch im gleichen Apartmentkomplex, aber in einem anderen Gebäude. Steve und Tom sind Cousins.«
»Was hat er in Toms Wohnung gemacht?«
»Die Katzen gefüttert, während Tom und Paula unterwegs waren. Das macht er manchmal.«
»Hast du mit Steve gesprochen, als du ihn gesehen hast?«
»Ja.« Renee starrte auf den Tisch. »Das heißt, eigentlich hat er mit mir gesprochen.«
»Worüber?«
»Müssen wir diesen Punkt wirklich vertiefen?«
»Nein, Renee. Wir müssen gar nichts vertiefen. Ich kann dich auch zur Wache bringen, wenn du lieber die Fragen beantworten willst, die man dir dort stellen wird.«
Bei der bloßen Erwähnung der Polizeiwache drehte sich Renees Magen um. Plötzlich war sie bereit, John ihre komplette Lebensgeschichte zu erzählen, wenn er danach gefragt hätte.
»Tut mir Leid«, sagte sie. »Steve ist ein sehr netter Kerl. Er ist klug und sieht gut aus, aber er hat ein oder zwei Charakterfehler, mit denen ich einfach nicht klarkomme.«
»Zum Beispiel?«
»Er hat überhaupt keinen Ehrgeiz. Er arbeitet in der Woche als DJ in den Clubs an der Colfax Street, wenn dort keine Livebands auftreten. Er hat immer wieder zu mir gesagt, diese Jobs seien nur vorübergehend, bis er richtige Arbeit gefunden hätte. Aber mir wurde sehr bald klar, dass das Plattenauflegen seine richtige Arbeit war und er gar nicht daran interessiert war, jemals etwas anderes zu machen. Und alles Geld, das er in die Finger bekommt, verspielt er gleich wieder. Also wird er es nie zu etwas bringen.«
So hatte sie nicht immer über ihn gedacht. Steve und sie hatten sich an vielen Sommerabenden mit Paula und Tom in Paulas Wohnung getroffen, um sich die Spiele der Rangers anzusehen, da Paula einen Großbildfernseher hatte und die besten Nachos der Welt machte. Renee war eigentlich kein großer Sportfan, aber an diesen Abenden hatten sie immer viel Spaß gehabt. Doch dann erkannte sie, dass Tom sich auf Paulas Kosten durchschlug und sie gleichzeitig betrog, während Steves größte Lebensziele darin bestanden, Musik zu machen und zu vögeln. Danach war es nicht mehr wie früher gewesen.
»Habt ihr euch deshalb getrennt?«, fragte John. »Weil er sich keinen richtigen Job suchen wollte?«
»Irgendwann wäre es darauf hinausgelaufen.«
»Aber das war nicht der eigentliche Grund.«
Renee zögerte, weil sie nicht verstand, warum diese Dinge von Bedeutung sein sollten. »Nein. Der eigentliche Grund war der, dass er nach zwei Monaten fand, dass wir miteinander schlafen sollten. Ich weigerte mich. Als ihm klar wurde, dass ich es ernst meinte, war er verschwunden.«
John machte sich eine Notiz, und Renee fragte sich, welchen Teil ihrer Erklärung John für so wichtig hielt, dass er ihn notieren musste. Dass sie nicht sofort mit jedem ins Bett ging? Angesichts dessen, was im Wald vorgefallen war, hatte er wahrscheinlich Schwierigkeiten, ihr in diesem Punkt Glauben zu schenken.
»Was geschah also, als ihr euch an jenem Abend getroffen habt?«
»Steve hat auf mich eingeredet, dass wir es noch einmal miteinander versuchen sollten. Ich konnte es nicht fassen. Er sagte, er sei ein Idiot gewesen, und ich sei das Beste, was ihm jemals zugestoßen ist. Ich wusste, dass er log, aber er klang so aufrichtig, dass ich ihm beinahe geglaubt hätte.«
»Beinahe?«
»Bis zu dem Augenblick, als er vorschlug, dass wir in meine Wohnung gehen sollten, um ... darüber zu reden.«
Renee sprach die letzten drei Worte in schleppendem und anzüglichem Tonfall, genauso wie Steve sie betont hatte, als er sie gegen die Wand gedrängt und sie angestarrt hatte. Mit diesem hungrigen Blick in den Augen, der ihr verriet, dass seine gegenwärtige Freundin Rhonda, die drogenabhängige Schlampe, ihn an diesem Abend offenbar versetzt hatte, und er nun nach der erstbesten Möglichkeit suchte, Sex zu haben.
»Reden war das Letzte, was er wollte«, sagte Renee. »Er wollte einfach nur vögeln. Er muss ziemlich verzweifelt gewesen sein, wenn er gedacht hat, dass ich es auch nur in Erwägung ziehen würde.«
»Was hast du dann getan?«
»Sagen wir einfach, dass Gott uns Frauen aus einem guten Grund mit Knien ausgestattet hat. Er krümmte sich immer noch am Boden, als ich in den Lift stieg.«
»Also habt ihr euch nicht gerade freundschaftlich getrennt.«
»So könnte man es ausdrücken. Warum fragst du überhaupt danach? Das hat doch gar nichts mit dem Überfall zu tun!«
»Nein, aber mit deinem Alibi. Ich möchte wissen, ob Steve möglicherweise zu einer für dich günstigen Aussage bereit wäre. Aber wenn er dein Knie zwischen den Beinen gespürt hat, dürfte sich seine Bereitschaft in Grenzen halten.«
»Das spielt sowieso keine Rolle. Mein Anwalt sagte, dass Steve mir kein Alibi verschaffen kann. Der Überfall geschah um Viertel nach zehn. Steve habe ich erst gegen elf getroffen.«
»Wie lange hast du mit ihm gesprochen?«
»Nur ein paar Minuten.«
»Du hast gesagt, er wohnt in einem anderen Gebäude. Müsste er den Parkplatz überqueren, auf dem dein Auto stand, wenn er zwischen deiner und seiner Wohnung unterwegs ist?«
Renee musste kurz überlegen. »Ja.«
»Gut. Dann könnte er in dieser Nacht etwas gesehen haben. Zum Beispiel jemanden, der sich auf dem Parkplatz aufgehalten hat. Vielleicht sogar in der Nähe deines Wagens. Wurde er nach dem Raubüberfall von der Polizei befragt?«
»Nicht dass ich wüsste.«
»Hast du jemandem gesagt, dass er das Beste ist, was du als Alibi vorzuweisen hast?«
»Ja, aber niemand wollte mir zuhören«, sagte sie verbittert. »Sie hatten eine Verdächtige. Und mein Anwalt sagte, es würde sowieso keine Rolle spielen, da wir uns viel später getroffen haben.«
»Falls Steve etwas gesehen hat, könnte er aus Rachsucht auf die Idee kommen, Informationen zurückzuhalten?«
Renee schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht. Ich meine, wir hatten zwar gelegentlich Streit, aber ich glaube nicht, dass er absichtlich etwas tun würde, das mir schaden könnte.«
»Obwohl du ihm dein Knie zwischen die Beine gerammt hast?«
»Das hat er sich redlich verdient.«
»Darum geht es nicht, Renee. Würde er Informationen zurückhalten - ja oder nein?«
Renee seufzte und wünschte sich, sie hätte ihren Standpunkt auf weniger schmerzhafte Weise zum Ausdruck gebracht. »Ich weiß es wirklich nicht.«
»Na gut«, sagte John. »Was glaubst du, wie die Sachen auf den Rücksitz deines Wagens gelangt sind?«
»Ich kann nur wiederholen, was ich schon einmal gesagt habe. Die Türen meines Wagens lassen sich nicht mehr richtig abschließen. Jeder hätte es tun können. Außerdem müsste ich schon ein absoluter Volltrottel sein, wenn ich mit einer Waffe und all dem Geld auf dem Rücksitz durch die Gegend fahre! Meinst du nicht, dass mir etwas Besseres eingefallen wäre, wenn ich wirklich einen bewaffneten Raubüberfall begangen hätte?«
John antwortete nicht. Im Grunde hatte er so gut wie gar nicht auf das reagiert, was sie gesagt hatte, sondern sie nur immer fester in die Zange genommen, was sie allmählich wahnsinnig machte.
»Kennst du irgendwelche Frauen, die auf die Idee kommen könnten, dir ein Verbrechen anzuhängen? Insbesondere Blondinen?«
»Anzuhängen?«
»Mit anderen Worten: Hast du Feinde, Renee?«
Rhonda kam ihr in den Sinn - Steves neue Freundin. Sie hatte sich das Haar gebleicht und ihren Körper mit Silikon vollstopfen lassen, so dass sie praktisch mit einem Schild herumlief, auf dem »billige Schlampe« stand. Rhonda hatte nie verstanden, warum Steve auf Renee abgefahren war. Infolgedessen betrachtete sie ihre Vorgängerin immer noch als Bedrohung. In Wahrheit musste sich Rhonda nicht die geringsten Sorgen machen, was Steve betraf. Solange sie sich bereitwillig von ihm flachlegen ließ, wenn er mit dem Finger schnippte, und ihm wegen seines Lebensstils keine Vorwürfe machte, würde er auf ewig ihr gehören.
Trotzdem war Rhondas Neigung zur Eifer- und Rachsucht inzwischen legendär. Als Renee und Steve zusammen gewesen waren, hatte sie im Waschsalon einmal vier rote Socken in Renees Wäschekorb geschmuggelt, worauf all ihre weißen Sachen einen grässlichen Rosaton angenommen hatten. Aber würde das kleine Flittchen so weit gehen, einen Raubüberfall zu inszenieren und ihr anzuhängen? Renee glaubte nicht daran.
»Steves neue Freundin Rhonda mag mich nicht. Sie hat immer noch Angst, ich könnte versuchen, sie auszustechen und ihr Steve wegzunehmen. Aber ich kann mir nicht vorstellen, dass sie zu solchen Mitteln greifen würde.«
»Bist du dir ganz sicher?«
»Nun ja ... ziemlich. Wäre das nicht etwas drastisch, um eine Rivalin aus dem Weg zu schaffen?«
»Manche Menschen werden zu Mördern, um Rivalen oder Rivalinnen aus dem Weg zu schaffen. Ist sie blond?«
»Sie könnte in jedem Werbespot für Wasserstoffperoxid mitspielen.«
»Hätte sie ein weiteres Motiv, einen Raubüberfall zu begehen?«
»Du meinst, abgesehen von der Tatsache, dass sie aufgrund ihres Kokainkonsums ständig pleite ist?«
»Nimmt sie es gelegentlich oder regelmäßig?«
»Sie geht nie ohne eine Prise aus dem Haus.«
John machte sich ein paar Notizen, dann schaute er wieder zu Renee auf. »Lass uns den Kreis etwas erweitern«, sagte er. »Gibt es weitere Blondinen in deiner Umgebung, die dir so ähnlich sehen, dass man dich bei einer Gegenüberstellung mit ihnen verwechseln könnte?«
»Die Einzigen, die mir einfallen, sind die Nutten im dritten Stock.«
John hob eine Augenbraue.
»Jedenfalls glaube ich, dass es Nutten sind. Viele Männer besuchen ihre Wohnung und gehen nach kurzer Zeit wieder, aber alle lächeln, wenn sie gehen.«
»Welche Nummer hat dieses Apartment?«
»Drei-siebzehn.«
Dann fragte er sie nach der genauen Adresse des Apartmentkomplexes und schrieb sich alles auf.
»Glaubst du, sie könnten etwas damit zu tun haben?«, fragte sie.
»Ich weiß es nicht.«
»Du scheinst der Überzeugung zu sein, dass es jemand gewesen sein muss, der im gleichen Komplex wie ich wohnt.«
»Die Apartments sind einen halben Kilometer vom Supermarkt entfernt. Raubüberfälle werden in den meisten Fällen von Menschen begangen, die in der Nähe des ausgeraubten Ladens wohnen. Wenn es so war, wie du sagst, und wenn jemand die Beute und die Tatwaffe auf dem Parkplatz in deinem Wagen deponiert hat, ist es gut möglich, dass der Raubüberfall von einem deiner Nachbarn begangen wurde .« Er hielt kurz inne. »Es könnte natürlich auch jemand gewesen sein, der hundert Kilometer entfernt wohnt.«
Und vor allem könntest du es gewesen sein. Er sagte es zwar nicht, aber die Worte hingen trotzdem zwischen ihnen in der Luft.
John starrte konzentriert auf seine Notizen, als versuchte er, ein schwieriges Kreuzworträtsel zu lösen. Schließlich atmete er kraftlos aus. »Sonst noch was?«
Sie wusste genau, was er wirklich mit dieser Frage meinte. Gib mir irgendeinen guten Grund, warum ich dich nicht bei der Polizei abliefern sollte - was ich schon vor über einer Stunde hätte tun sollen. Nenn mir irgendeinen Grund, warum ich dir glauben soll.
Aber sie hatte ihm nichts mehr anzubieten.
»Ich weiß nicht, was ich noch sagen könnte«, murmelte sie.
Er klopfte langsam mit dem Stift auf die Tischplatte. Für einen längeren, furchtbaren Zeitraum war es das einzige Geräusch im Raum, vielleicht mit Ausnahme ihres Herzens, das so heftig in ihrer Brust schlug, dass die Seismographen in Kalifornien es registrieren mussten.
»Ich werde dir jetzt eine weitere Frage stellen, Renee«, kündigte er an. »Und ich will, dass du mir die Wahrheit sagst.«
Sie wartete ab, während ihr Herzschlag die Stärke 8,5 auf der Richter-Skala erreichte. Er klopfte noch zweimal mit dem Stift auf den Tisch.
»Warum hast du mich draußen vor der Hütte nicht erschossen, als du die Gelegenheit dazu hattest?«
Weil sie Waffen nicht ausstehen konnte. Weil es ihr bereits Todesangst eingejagt hatte, seine Pistole nur in der Hand zu halten. Weil sie John niemals verletzen könnte, ganz gleich, unter welchen Umständen.
Und weil sie unschuldig war.
»John, wenn du die Antwort auf diese Frage nicht wüsstest«, erwiderte sie, »wäre ich jetzt wohl nicht hier.«
Er sah sie lange Zeit mit eindringlichem Blick an, und plötzlich dachte sie, dass sie einen großen Fehler begangen hatte. Nicht gut genug, Renee, hörte sie ihn sagen, und sie hatte das schreckliche Bild vor Augen, wie er aufstand, sie zu seinem Wagen zerrte und zur Polizei fuhr.
Stattdessen warf er den Stift hin und erhob sich. »Okay. Das soll für heute genügen. Wenn du duschen willst, benutz das Bad neben meinem Schlafzimmer.«
Renee verspürte eine überwältigende Erleichterung. »Also darf ich ... heute Nacht hier bleiben?«
»Ja. Heute Nacht.«
Mehr bot er ihr nicht an, und sie bat ihn nicht um mehr.
»Komm nicht auf dumme Gedanken. Das Badezimmerfenster lässt sich seit dem letzten Anstrich nicht mehr öffnen. Und es macht sehr viel Lärm, wenn du die Scheibe einschlägst. Ich würde es sogar hören, wenn ich gerade unter der Dusche stehe. Und schließ nicht die Tür ab, sonst trete ich sie ein.«
»Okay.«
Sie hätte sich mit allem einverstanden erklärt. Schließlich bekam sie mehr, als sie sich noch vor kurzem erhofft hatte ein Zimmer, in dem sie die Nacht verbringen konnte und das nicht mit Metallgitterstäben und einer von außen einsehbaren Toilette ausgestattet war.
»John?«, sagte sie zögernd. »Was wird jetzt mit mir geschehen?«
»Darüber werden wir morgen reden.«
»Aber ...«
»Morgen.«
Renee presste die Lippen zusammen. Du bist hier und nicht im Gefängnis. Fordere dein Glück nicht zu sehr heraus.
Er führte sie zum Bad. Sie sah an sich herab, auf ihre dreckigen Jeans und die Kiefernnadeln, mit denen sie gespickt war. »Hast du eine Waschmaschine?«
»Ja. Warum?«
»Das hier sind die einzigen Sachen, die ich dabeihabe. Würde es dir etwas ausmachen, sie schnell zu waschen?«
Er blickte sie fassungslos an. »Mein Haus ist kein Luxushotel, Renee.«
»Komm schon, John! Schau mich an!«
Er schloss kopfschüttelnd die Augen. »Reich sie mir durch die Tür nach draußen.«
»Dann brauche ich noch etwas zum Anziehen, wenn ich mit dem Duschen fertig bin.«
Mit einem schweren Seufzer trat John an seinen Kleiderschrank und suchte ein abgetragenes Flanellhemd für sie heraus. Sie nahm es, ging ins Bad und schloss hinter sich die Tür.
John wartete draußen und fragte sich, wie es ihr gelungen war, ihn zu ihrem Kammerdiener zu machen. Es war bereits der helle Wahnsinn gewesen, sie überhaupt mit nach Hause zu nehmen. Und jetzt sollte er sich um ihre Wäsche kümmern?
Kurze Zeit später öffnete sich die Badezimmertür einen Spalt weit, und sie warf ihm ihre Jeans und ihr Sweatshirt zu.
Er fing sie auf und wollte gehen.
»Warte!«
Als er sich umdrehte, sah er, dass sie einen pinkfarbenen Satin-BH und ein dazu passendes Höschen in der Hand hielt.
»John?«
Sie wedelte mit der Unterwäsche vor seinem Gesicht herum. Einen Moment lang beobachtete er den Tanz des Satinstoffs, dann nahm er ihr die unaussprechlichen Dinge ab und versuchte, nicht an die logische Schlussfolgerung zu denken - dass sie völlig nackt hinter der Tür stand.
Sie lugte durch den Türspalt. »Und achte bitte darauf, die hellen Sachen getrennt von den dunklen zu waschen. Und die Jeans dürfen auf keinen Fall zu heiß gewaschen werden, sonst schrumpfen sie, so dass ich anschließend nicht mehr hineinpasse. Für die Dessous solltest du lieber den Schonwaschgang nehmen und ein klein wenig Weichspüler dazutun ...«
»Kein Weichspüler. Kein Schonwaschgang. Deine Sachen werden damit leben müssen, dass ich sie genauso wie alles andere wasche.«
»John! Es ist doch wirklich nicht so kompliziert ...«
Er warf ihr einen warnenden Blick zu.
»Ach so. Ja, ich habe verstanden.« Sie verzog mürrisch das Gesicht und schloss die Tür.
Er warf ihre schmutzigen Sachen in die Maschine und nahm sich vor, sie erst am nächsten Morgen herauszunehmen und in den Wäschetrockner zu tun. Dann fiel ihm völlig zusammenhanglos sein Handy ein. Er holte es aus seinem Wagen und schloss es ans Ladegerät an. Schließlich kehrte er ins Schlafzimmer zurück, setzte sich auf die Bettkante und wartete, dass Renee die Dusche verließ.
Er blickte sich im Zimmer um, sah die Staubschicht, die auf allem lag, den Stapel Altpapier auf seinem Nachttisch, sein ungemachtes Bett. Er dachte daran, wie seine Schwester Sandy ihm ständig wegen des Zustands seines Hauses in den Ohren lag. Sie hatte ihm gesagt, dass jede Frau, die er nach Hause mitnahm, sich sofort übergeben und die Flucht ergreifen würde. Wenn er nichts daran änderte, würde er auch mit vierzig oder fünfzig Jahren noch unverheiratet sein.
Plötzlich machte ihn Renees Anwesenheit befangen, aber er wusste nicht genau, warum. Vielleicht weil sie die einzige Frau war, die jemals sein Schlafzimmer zu Gesicht bekommen hatte. Wenn er sich mit einer Frau traf und sich die Möglichkeit abzeichnete, dass sie sich irgendwie näher kommen könnten, ging er mit ihr stets in ihre Wohnung, weil es dann wesentlich einfacher war, sich notfalls schnell aus dem Staub zu machen. Und irgendwie schien es immer darauf hinauszulaufen.
Aber Renee gehörte nicht zu dieser Art von Bekanntschaften. Ganz im Gegenteil.
Er hörte, wie sie die Dusche abstellte. Wenig später drang ein lautes Surren aus dem Bad. Offenbar hatte sie den alten Fön entdeckt, den er unter dem Waschbecken verstaut hatte. Als sie kurz darauf durch die Tür kam, blieb ihm fast das Herz stehen.
Sie war mindestens einsfünfundsiebzig groß, so dass der Saum seines Flanellhemds gerade noch ihre Scham bedeckte. Darunter setzten sich ihre langen, sonnengebräunten Beine fort. Sie hatte die Ärmel hochgekrempelt, und der dicke Stoffwulst an den Ellbogen bildete einen extremen Kontrast zu ihren schlanken Unterarmen. Ihr Haar war nach dem Föhnen weich und voll und schimmerte honigblond in der schwachen Beleuchtung des Schlafzimmers.
Da sich ihre Dessous in der Waschmaschine befanden, musste sie unter dem Hemd völlig nackt sein. Er dachte daran, wie sie sich im Schlaf herumwälzen würde, wie das Hemd verrutschte und mehr von ihr entblößte, als gut für ihn war, und diese Vorstellung jagte ihm eine Hitzewelle über den Rücken.
Er zeigte aufs Bett. »Du kannst hier schlafen. Aber ich muss dich wieder anketten.«
Sie stieß einen unwilligen Seufzer aus. »Bitte, John! Ich schwöre, dass ich auf keinen Fall ...«
Er zeigte erneut aufs Bett. »Setz dich.«
Gehorsam setzte sie sich auf die Bettkante. Er griff nach der Handschelle, die am Bettpfosten baumelte, und legte sie um ihr Handgelenk. Diese Dinge schienen überhaupt nicht zusammenzupassen - das warme, zarte Handgelenk, von einem kalten Metallring umschlossen. Er ließ die Handschelle zuschnappen und rief sich ins Gedächtnis, dass sie ein Fall für die Justiz war und keine Frau, mit der er die Nacht verbringen wollte, ganz gleich, wie attraktiv sie sein mochte, wie hübsch und appetitlich sie aussah, wie wunderbar frisch sie roch, nach Seife, Shampoo und ...
Und nach Pfefferminz-Zahnpasta!
»Verdammt noch mal, Renee, du hast es schon wieder getan!«
»Was?«
»Meine Zahnbürste benutzt!«
Sie sah ihn mit verständnislosem Stirnrunzeln an. »Meinst du nicht, dass du in diesem Punkt etwas zu pingelig bist?«
»Gut. Betrachte sie als deine Zahnbürste. Ich werde auf meine Reisezahnbürste zurückgreifen, die du natürlich auch schon benutzt hast«, sagte er mit mürrisch verzogener Miene.
»Ich schätze, jetzt ist kein guter Zeitpunkt, dir zu sagen, dass ich deinen Rasierapparat für meine Beine benutzt habe, oder?«
Er funkelte sie wütend an. »Lass gefälligst die Finger von meinen Sachen!«
Dann holte er eine alte Jogginghose und ein T-Shirt aus dem Schrank, ging ins Bad und zog seine dreckigen Sachen aus. Nach einer schnellen Dusche brachte er die Schmutzwäsche weg, kehrte ins Schlafzimmer zurück und schlüpfte neben Renee, aber auf der anderen Seite des Bettes unter die Decke.
»Du schläfst auch hier?«, fragte sie.
»Es ist das einzige Bett in diesem Haus. Im zweiten Schlafzimmer stehen meine Trainingsgeräte.«
»Also lautet die Antwort Ja?«
»Hast du damit ein Problem?«
Sie zuckte mit der Schulter. »Nein. Kein Problem.«
»Schließlich ist es nicht das erste Mal, dass wir zusammen in einem Bett schlafen.«
»Ich weiß.«
»Wir werden einfach nur schlafen«, sagte er streng. »Sonst nichts, Renee!«
»Ich würde sagen, das mit dem ›sonst nichts‹ hast du mir heute recht unmissverständlich vermittelt.«
»Was im Wald vorgefallen ist, wird sich heute Nacht in keiner Weise wiederholen. Hast du das verstanden?«
»Ja, John«, sagte sie mit leichter Ungeduld. »Die Regeln sind völlig klar. Wir befinden uns in einer sexfreien Zone. Es würde mir nicht im Traum einfallen, dieses Tabu zu verletzen.«
»Ich hoffe es.«
Sie starrte ihn längere Zeit schweigend an, dann hob sie eine Augenbraue, die zu sagen schien: Wen versuchst du eigentlich zu überzeugen, John? Mich oder dich?
Für einen kurzen Moment kam sich John durchschaut vor, als könnte sie problemlos seine Gedanken lesen. Er kroch weiter unter die Decke, kehrte ihr den Rücken zu, schaltete die Nachttischlampe aus, legte den Kopf aufs Kissen und war sich ständig der Tatsache bewusst, dass sie nur wenige Zentimeter von ihm entfernt im gleichen Bett lag halbnackt, blond und unglaublich hübsch.
Vor weniger als sechs Stunden war sie bereit gewesen, wilden, heißen Sex mit ihm zu haben, wenn er dem Ganzen nicht im letzten Moment einen Riegel vorgeschoben hätte. Hatte sie deshalb mit ihm diskutiert, wo er in dieser Nacht schlafen würde? Weil sie eigentlich mehr wollte als nur schlafen?
Nein, verdammt noch mall Hör endlich auf, daran zu denken! Mit Renee läuft nichts, Funkt.
Mehrere Minuten vergingen. John war schon fast eingenickt, als er Renees Stimme hörte.
»John?«
Er seufzte schläfrig. »Was willst du?«
Längere Zeit schwieg sie. Dann bewegte sie sich, und wieder hörte er ihre Stimme, die sich verführerisch in seine Gehörgänge schlängelte.
»Warum hast du mich nicht ins Gefängnis gebracht?«
Eine gute Frage. Warum schlief sie hier und nicht auf einer Pritsche in einer vergitterten Zelle? Warum in aller Welt hatte er sie in sein Haus mitgenommen? Warum setzte er seine Karriere wegen einer Frau aufs Spiel, die er kaum kannte und die möglicherweise doch eine Straftäterin war?
Er hätte ihr gerne eine professionelle Antwort gegeben, mit der er sich aus der persönlichen Verantwortung ziehen konnte, etwas wie »Die Beweise sind eindeutig« oder »Als Polizist bin ich befugt, die Sachlage nach eigenem Ermessen einzuschätzen« oder einfach nur »Du hast eben Glück gehabt, und jetzt halt die Klappe«.
Aber das konnte er nicht.
Er drehte sich zu ihr um. Und das war ein ganz großer, schwerer, böser Fehler.
Im Licht der Straßenbeleuchtung, das schwach durch die Jalousien drang, war die Farbe ihrer Augen nicht mehr zu erkennen, aber er sah deutlich, wie hell es darin schimmerte. Hatte es auf dieser Welt je eine Verbrecherin mit solchen Augen gegeben?
Die späte Stunde, die Dunkelheit, ihre zaghaft geflüsterte Frage, als hätte sie schreckliche Angst vor der Antwort all das machte es ihm mit einem Mal unmöglich, etwas anderes als die Wahrheit zu sagen.
»Du bist hier, weil ich gewisse Zweifel an deiner Schuld habe.«
»Du glaubst also, dass ich es nicht war?«
»Das habe ich nicht gesagt. Ich habe Zweifel. Mehr nicht.«
»Genügend Zweifel, um das Risiko einzugehen, deinen Job zu verlieren?«
»Mach dir keine Illusionen, Renee. Wenn ich mich zwischen dir oder meinem Job entscheiden muss, wanderst du in den Knast.«
Er kehrte ihr wieder den Rücken zu und zog sich demonstrativ die Decke über die Schulter. Er wollte sie nicht mehr ansehen. Es war schon schwer genug, seine Fassade der rücksichtslosen Professionalität aufrechtzuerhalten, während er sich nicht sicher war, ob er ihr damit Unrecht tat.
Sie hatte ihm keine schlüssigen Hinweise geliefert, die begründete Zweifel an ihrer Schuld weckten, aber trotzdem wurde er das Gefühl nicht los, dass dieser Fall alles andere als eine klare Routineangelegenheit war. War sie zum unschuldigen Opfer geworden, weil irgendwer - vielleicht aus Angst vor Entdeckung - die Beweise in ihren Wagen geworfen hatte? Möglicherweise. Aber warum hatte die Augenzeugin sie bei der Gegenüberstellung identifiziert? Wie gut standen die Chancen, eine solche Zeugenaussage zu widerlegen?
Trotz der erdrückenden Beweise für ihre Schuld ließen sich seine Zweifel nicht zerstreuen. Und er wusste genau, dass die einzige Möglichkeit, sich von diesen Zweifeln zu befreien, darin bestand, ein paar Ermittlungen auf eigene Faust anzustellen.